26. Internationales Thomas-Mann-Festival 9.–16. Juli 2022
Über das Motto
Nachbarschaft ist eine sehr alte, man könnte sagen grundlegende Realität der Menschheit. In vielen Kulturen ist die Gesellschaft in Nachbarschaften organisiert, d. h. in Gemeinschaften, die in einem bestimmten Raum leben und gemeinsame Pflichten und Verantwortlichkeiten haben, sowohl untereinander als auch gegenüber ihren Mitgliedern, gegenüber größeren Verwaltungseinheiten und gegenüber anderen Nachbarschaften. Auch Dörfer und städtische Nachbarschaften oder Bezirke sind aus Nachbarschaften entstanden oder haben sich zu solchen entwickelt. Die Kulturgeschichte und die Alltagsethik sind voll von Normen, die sich aus dem Bewusstsein ergeben, dass Nachbarschaft zwar räumlich, aber nicht zeitlich begrenzt ist, und dass es daher notwendig ist, dass Nachbarn sich daran erinnern, dass Konflikte und Missstände weit über ihr Leben hinausführen – sie sind erblich, werden über Generationen weitergegeben und lassen sich sehr schwer heilen. Deshalb ermahnt die Alltagsweisheit in allen Kulturen mit den Nachbarn gut auszukommen, Toleranz zu üben, die guten Nachbarn zu loben und die schlechten zu verurteilen.
In stabilen Nachbarschaften stellen neue Nachbarn eine große Herausforderung dar – sie sind die Fremden, die von irgendwoher kommen und unbekanntes mitbringen. Nicht weniger herausfordernd sind neue Nachbarschaften an Orten, die verschwunden waren. Sie sind nicht weniger herausfordernd, denn alle kennen sich nicht und jeder ist dem Anderen ein Fremder. Solche Nachbarschaften geraten manchmal zu einer Ansammlung von Menschen, die mit anderen nichts zu tun haben wollen. Und leider wird in letzter Zeit immer häufiger von gefährlichen Nachbarschaften gesprochen und über Nachbarn, von denen Gefahren ausgehen, vor denen man sich möglicherweise schützen muss, indem man sich abschottet oder sie sogar bekämpft.
Nachbarschaft ist also keine einfache Angelegenheit. Sie kann gut und schlecht sein, sie kann das Wachstum fördern oder es erdrücken, sie kann es öffnen oder einschränken. Es gibt Nachbarschaften, vor denen man flieht, und es gibt Nachbarschaften, auf die man zugeht oder in denen man aufgehen möchte, womit die alte Weisheit widerlegt wird, dass man sich seine Nachbarn nicht aussuchen kann. Aber ist es nicht so, dass der Nächste nicht nur neben uns, sondern auch in uns lebt? Und wir sind die Nachbarn? Wenn ja, wie sollten wir leben?